Heute wollen wir einige Überlegungen anstellen, die die Vernehmung von Zeugen in der Hauptverhandlung betreffen. Zum Einstieg eine kleine Auffrischung strafprozessualen Grundlagenwissens.
Erklärt ein Zeuge in der Hauptverhandlung, sich an einen bestimmten Vorgang, zu dem er bei einer früheren Vernehmung etwas gesagt hat, nicht erinnern zu können, so kann nach § 253 Abs. 1 StPO die entsprechende Passage aus dem Vernehmungsprotokoll verlesen werden. Sie ist damit im Wege des Urkundenbeweises in die Hauptverhandlung eingeführt.
Nun geschieht es im Prozessalltag nicht selten, dass ein Zeuge mitteilt, er werde im Falle seiner Vernehmung in der Hauptverhandlung keine Angaben machen, weil er sich auf ein umfassendes Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 Abs. 1 StPO berufe. Grundsätzlich gestattet die Vorschrift es dem Zeugen zwar nur, die Antwort auf einzelne Fragen zu verweigern, wenn ihre Beantwortung ihn in die Gefahr der Strafverfolgung bringen könnte. Wäre aber der gesamte Inhalt der Zeugenaussage von den Voraussetzungen des § 55 Abs. 1 umfasst, so kommt das Auskunftsverweigerungsrecht einem Zeugnisverweigerungsrecht gleich; der Zeuge muss in diesem Fall überhaupt keine Frage beantworten (BeckOK-StPO/Graf, § 55 Rn. 2 mN). Das Gericht kann in diesem Fall auf die Ladung des Zeugen verzichten oder einen bereits geladenen Zeugen wieder abladen; das Sichberufen auf ein umfassendes Auskunftsverweigerungsrecht macht den Zeugen zu einem ungeeigneten Beweismittel iSv § 244 Abs. 3 S. 2 StPO.
Regelmäßig wird das Gericht (dies gebietet die Aufklärungspflicht) in derartigen Fällen den Vernehmungsbeamten laden und versuchen, über seine Vernehmung als Zeuge vom Hörensagen die bei den Akten befindliche Aussage des Zeugen einzuführen. Und an dieser Stelle wird es interessant: Was, wenn sich der Vernehmungsbeamte an Teile der Vernehmung auch dann nicht mehr erinnert, wenn sie ihm vorgehalten werden? Darf das Gericht in diesem Fall die entsprechende Vernehmungspassage („vernehmungsergänzend“) verlesen und sie damit im Wege des Urkundenbeweises einführen?
Der eingangs erwähnte § 253 Abs. 1 StPO hilft nicht weiter, wenn der Vernehmungsbeamte vernommen wird. Nach dem eindeutigen Wortlaut der Norm darf ein Teil aus „seiner“ Vernehmung verlesen werden, d. h., aus der Vernehmung des Zeugen, der nunmehr erklärt, sich nicht erinnern zu können. Der Zeuge muss also vernommen worden und darf nicht selbst der Vernehmende gewesen sein.
Auch auf § 251 Abs. 1 StPO lässt sich nicht zurückgreifen, wenn es an einem allseitigen Einverständnis mit der Verlesung (§ 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO) fehlt. Ein Fall des § 251 Abs. 1 Nr. 3 StPO ist ebenfalls nicht gegeben, denn wenn ein Zeuge sich berechtigt auf ein umfassendes Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 Abs 1 StPO beruft, führt dies nicht dazu, dass der Zeuge (wie es die Vorschrift verlangt) „nicht vernommen werden kann“ (BGH 2 StR 490/06 = NStZ 2007, 2195; KK/Diemer, § 251 StPO Rz. 7 mwN).
Damit bliebe noch der Rückgriff auf § 249 Abs. 1 StPO, der allerdings nur dann möglich wäre, wenn der in § 250 StPO normierte Unmittelbarkeitsgrundsatz nicht entgegenstünde, der dem Zeugenbeweis, soweit dieser möglich ist, den Vorrang vor dem Urkundenbeweis einräumt und es verbietet (§ 250 S. 2 StPO), den Zeugen- durch den Urkundenbeweis zu ersetzen. Einer Verlesung nach § 249 Abs. 1 StPO stünde dies freilich nur dann entgegen, wenn aus dem in § 250 S. 2 StPO normierten Verbot der Ersetzung auch das Verbot der „Ergänzung“ der Vernehmung folgen würde.
Zu bejahen ist diese Frage jedenfalls dann, wenn es um Vernehmungsprotokolle geht. Zum einen enthalten die §§ 251-255 StPO insoweit abschließende Sonderregelungen (s. a. KK/Diemer, § 250 StPO Rz. 2). Zum anderen aber handelt es sich bei genauerem Hinsehen gar nicht um eine „Ergänzung“, sondern tatsächlich um eine Ersetzung der Vernehmung, denn die Vernehmungspassage wird durch die Verlesung im Wege des Urkundenbeweises selbst verwertbare Urteilsgrundlage und tritt damit an die Stelle der Aussage des Vernehmungsbeamten, der zu dem fraglichen Punkt mangels Erinnerung nichts bekunden kann. Der BGH hat in einer immerhin bereits aus dem Jahr 1965 stammenden Grundsatzentscheidung (1 StR 4/65 = NJW 1965, 874) ohnehin die Notwendigkeit einer auszugsweisen Verlesung des Vernehmungsprotokolls verneint, denn der Inhalt des Protokolls könne „regelmäßig“ durch die Vernehmung der beteiligten Verhörsperson als Zeuge eingeführt werden. Daraus folgt zugleich, dass nur diese zur verwertbaren Urteilsgrundlage werden soll. Gibt der Zeuge an, sich an eine Passage der Vernehmung nicht erinnern zu können, dann ist das hinzunehmen und führt nicht einer Einschränkung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes, einmal ganz abgesehen davon, dass sich auch noch argumentieren ließe, dass der Gesetzgeber in § 253 Abs. 1 StPO die Verlesung von Vernehmungspassagen ausdrücklich nur für den Fall der Vernehmung des unmittelbaren Zeugen in der Hauptverhandlung geregelt und unter bestimmten Voraussetzungen für zulässig erklärt hat. An einer entsprechenden Ausnahmeregelung für den Fall der Vernehmung eines mittelbaren Zeugen fehlt es hingegen, woraus sich zwanglos schließen lässt, dass sie nicht zulässig sein soll.
Ergebnis: Auch nach § 249 Abs. 1 StPO kommt eine auszugsweise Verlesung des Vernehmungsprotokolls des auskunftsverweigerungsberechtigten Zeugen nicht in Betracht. Der Verteidiger hat einem solchen Vorhaben des Vorsitzenden zu widersprechen und ggf. einen Gerichtsbeschluss zu erwirken (§ 238 Abs. 2 StPO).